19.12.2025 – Eine mangelhafte Invaliditätsfeststellung innerhalb der vertraglich vorgegebenen Frist kann dazu führen, dass ein Versicherungsnehmer seine Leistung aus der privaten Unfallversicherung verwirkt – selbst, wenn er nach Ablauf der Frist noch Belege nachreicht. Das zeigt ein Urteil des Oberlandesgerichts Brandenburg.
Einem Mann gerieten im November 2016 beim Transport eines Oleanders dessen Blätter in die Augen. Er behauptete, dabei sei das Gift der hochgiftigen Pflanze in die Augen gelangt und habe dort sogenannte „Perforationen mit circa 500 Löchern“ verursacht – mikroskopisch kleine Defekte der Hornhautoberfläche.
Dies meldete der Hobbybotaniker im November 2018 als Unfall seinem privaten Unfallversicherer. Er gab an, seitdem ein ganztägiges Stechen in den Augen wahrzunehmen. Zudem bestehe ein dauerhafter Sichtfelddefekt, der zu einer Invalidität beider Augen von jeweils 50 Prozent geführt habe. Er verlangte 994.700 Euro – die vereinbarte „sechsfache Mehrleistung“.
Der Kläger legte dem Versicherer einen vorläufigen Arztbericht bei. In dem Bericht wurden eine „Bulbusverätzung“ und „subjektive Sehstörungen“ diagnostiziert. Eine ausdrücklich formulierte Prognose über den Bestand oder die Entwicklung der Schädigung enthielt der Arztbericht nicht.
Nach den Bedingungen der für den Kläger abgeschlossenen Unfallversicherung liegt eine Invalidität vor, wenn die Leistungsfähigkeit voraussichtlich mindestens drei Jahre beeinträchtigt ist und sich dieser Zustand nicht mehr bessert. Zudem setzt ein Anspruch auf eine Invaliditätsleistung voraus, dass ein Arzt die Invalidität innerhalb von zwei Jahren nach dem Unfall schriftlich feststellt.
Zudem wies der Versicherer den Verunfallten auf die vertraglich festgelegten Fristen hin. Voraussetzung für einen Anspruch auf Invaliditätsleistungen sei es unter anderem, dass ein Arzt die Invalidität innerhalb von zwei Jahren nach dem Unfall schriftlich feststellt.
Der Versicherer holte daraufhin am 16. November 2018 die Stellungnahme einer Augenärztin ein. Diese legte zwei inhaltlich weitgehend übereinstimmende Stellungnahmen vor, in denen sie eine schwere Schädigung verneinte und darauf verwies, dass die Angaben im Arztbericht keine verlässliche Einschätzung des Ausmaßes der Beeinträchtigung zuließen:
Trotz der Zweifel erbrachte der Versicherer zweimal eine Kulanzleistung. Er zahlte zunächst nach Antragstellung ein Verletztengeld von 400 Euro und stand dem Versicherten am 17. Dezember 2019 eine weitere Zahlung in Höhe von rund 2.895 Euro zu. Weitere Zahlungen lehnte er jedoch ab, da sich aus dem vorläufigen Arztbericht keine dauerhafte Schädigung ableiten lasse.
Der Geschädigte klagte daraufhin gegen den Versicherer. Er machte geltend, dieser habe sich widersprüchlich und willkürlich verhalten: Zunächst begann er mit der Schadensregulierung, lehnte dann jedoch eine Invaliditätsleistung ab. Damit habe der Versicherer treuwidrig gehandelt und gegen § 242 BGB verstoßen.
Das Landgericht Potsdam wies die Klage mit Urteil vom 30. Juli 2024 (13 O 43/21) jedoch ab. Dem Mann stünden keine weiteren Leistungen aus seinem Unfallversicherungsvertrag zu, da er die Frist zur Invaliditätsfeststellung nicht eingehalten habe. Aus dem eingereichten vorläufigen Arztbericht ließen sich keine Anhaltspunkte dafür ableiten, dass eine dauerhafte Invalidität vorliege.
Das Landgericht kam außerdem zu dem Ergebnis, dass der Versicherer nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen habe. Der Kläger sei darüber informiert worden, dass der Versicherer den Unfall nicht als kausal für die geltend gemachten Beschwerden einschätze.
Die fehlende Kausalität ergebe sich aus der ärztlichen Stellungnahme vom 29. Oktober 2019, die der Kläger gemeinsam mit dem Schreiben der Beklagten vom 17. Dezember 2019 erhalten und nicht bestritten habe.
Gegen dieses Urteil ging der Versicherungsnehmer in Berufung. Nun argumentierte er, das Landgericht habe unzutreffende und zu strenge Anforderungen an die Invaliditätsfeststellung angelegt.
Seiner Ansicht nach reiche der Arztbericht vom 2. November 2018 aus, da sich daraus ergebe, dass innerhalb der Zweijahresfrist eine Augenverätzung vorgelegen habe. Zudem sei ausgeschlossen worden, dass andere Umstände als der Unfall diese Erkrankung verursacht haben könnten.
Auf den Fristablauf dürfe sich die Beklagte nicht berufen, argumentierte der Versicherungsnehmer weiter, weil sie vor Prozessbeginn nie auf eine etwaige Obliegenheitsverletzung hingewiesen habe. Sie habe auf Grund weiterer, nach dem Arztbericht vom 2. November 2018 eingeholter ärztlicher Stellungnahmen geleistet.
Doch das Oberlandesgericht Brandenburg folgte der Auffassung des Versicherungsnehmers nicht. Mit einem Beschluss vom 8. Mai 2025 (11 U 163/24) wies es die Berufung zurück. Dafür nannte der zuständige 11. Zivilsenat folgende Gründe:
Explizit wies das OLG darauf hin, dass die vom Versicherer eingeholten Arztberichte keine Kausalität zwischen dem Unfallereignis und den angegebenen Beeinträchtigungen feststellen konnten. Ein Zusammenhang sei unklar geblieben. Unklar sei ebenfalls, ob die Beschwerden nur vorübergehend seien oder wieder abklingen.
Veränderungen des Sehvermögens ließen sich demnach nicht objektiv nachweisen, und eine Prognose über den weiteren Verlauf war nicht möglich. Eine Invalidität nach den AVB – also eine durch den Unfall verursachte dauerhafte Beeinträchtigung ohne Aussicht auf Besserung – wurde damit deutlich verneint.
Vor diesem Hintergrund musste der Kläger die Mitteilung über die Teilleistung als Kulanzleistung verstehen, so das Gericht. Die Beklagte zahlte den Betrag freiwillig, ohne dazu rechtlich verpflichtet zu sein. Dass der Kläger dieses Verhalten als willkürlich einstufte, treffe zwar formal zu, habe aber keine Auswirkungen auf seine Rechte. Kulanzleistungen seien per Definition freiwillig und nicht an rechtliche Ansprüche gebunden.
„Der Beschluss des OLG Brandenburg macht deutlich, welche weitreichenden Folgen sich aus dem Fehlen der Invaliditätsfeststellung ergeben können. Selbst wenn Leistungen erbracht wurden, kann der Versicherer sich gegebenenfalls noch auf die Fristen in der Unfallversicherung berufen“, so kommentiert Rechtsanwalt Jens Reichow von Jöhnke & Reichow Rechtsanwälte in Partnerschaft mbB das Urteil auf dem Blog der Kanzlei.
Zudem könne es fraglich sein, ob der Versicherer einen Vertrauenstatbestand hervorgerufen habe, so dass sich trotz Fristversäumnis ein Leistungsanspruch des Versicherungsnehmers ergibt, erklärt Reichow weiter. Auch wenn im vorliegenden Fall gegen den Versicherungsnehmer entschieden wurde, lohne es sich, einen solchen Tatbestand zu prüfen.
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