Bundesgerichtshof: Rechtsschutzversicherung greift schon ab Autokauf

21.10.2025 – Im Dieselgate-Skandal hat der BGH zentrale Klauseln einer Verkehrs-Rechtsschutzversicherung für unklar erklärt. Versicherungsnehmer können demnach auch beim Erwerb eines Ersatzfahrzeugs Deckung erwarten, solange es zur gleichen Fahrzeuggruppe gehört wie das ursprünglich versicherte – und nicht erst ab Zulassung. Die Vorinstanz muss nun prüfen, in welchem Umfang der Versicherer tatsächlich Deckung leisten muss.

Eine Frau hält seit 1997 eine Rechtsschutzversicherung, die auch einen Verkehrsrechtsschutz-Baustein beinhaltet. Ihm zugrunde lagen die Versicherungsbedingungen VRB 1994.

Im Jahr 2017 kaufte die Frau einen gebrauchten Diesel-Pkw, den sie erst einige Tage später zuließ. Das Fahrzeug hatte ein sogenanntes Thermofenster – eine Abschalteinrichtung, die die Abgasreinigung unter bestimmten Bedingungen einschränkt, so dass die tatsächlichen Emissionen im Alltagsgebrauch höher ausfallen als vom Hersteller angegeben.

Der unter dem Begriff „Dieselgate“ bekannt gewordene Skandal sorgte auch deshalb für Schlagzeilen, weil sich die deutschen Autohersteller – anders als zum Beispiel in den USA – weigerten, deutsche Kunden für den Kauf eines solchen Fahrzeugs zu entschädigen (VersicherungsJournal 17.7.2020).

Rechtsschutzversicherer lehnt Übernahme der Kosten ab

Im vorliegenden Fall wollte die Frau eine Deckungszusage ihres Versicherers erzwingen, um gegen den Hersteller wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen zur Abgasreinigung vorzugehen. Der Rechtsschutzversicherer lehnte die Übernahme der Rechtskosten jedoch ab. Dabei berief er sich auf zwei Argumente:

  • Die Klage gegen den Autohersteller habe keine Aussicht auf Erfolg.
  • Laut den AVB (§ 21 Abs. 1 VRB 1994) bestehe der Versicherungsschutz grundsätzlich nur für Fahrzeuge, die bereits auf den Versicherungsnehmer zugelassen sind. Ein Rechtsschutzfall, der zuvor beim Erwerb des Fahrzeugs entsteht, fällt nach Auffassung des Versicherers nicht unter den Deckungsschutz.

Nachdem die Frau gegen den Versicherer klagte, gab ihr das Landgericht Itzehoe zunächst Recht. Dieses Urteil kassierte aber das Oberlandesgericht Schleswig mit Urteil vom 17. Juni 2024 (16 U 11/24) – und entschied, dass der Versicherer wirksam die Übernahme der Kosten ablehnen konnte, weil die Klauseln erst Deckungsschutz für Fälle vorsähen, die nach Zulassung des Fahrzeugs eintreten.

Bundesgerichtshof bestätigt Anspruch der Klägerin auf Deckungszusage

Der Bundesgerichtshof hob jedoch mit Urteil vom 15. Oktober 2025 (IV ZR 86/24) hervor, dass die Klägerin entgegen dem Urteil der Vorinstanz Anrecht auf eine Deckungszusage habe. Demnach gelte für den geltend gemachten Rechtsschutzfall Versicherungsschutz. Eine schriftliche Urteilsbegründung liegt zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vor.

Zwar ergebe sich der Versicherungsschutz nicht aus § 21 Absatz 1 der VRB, wie das Gericht in einem Pressetext hervorhebt. Denn der Versicherungsnehmer entnehme dem Wortlaut dieser Regelung nichts dazu, dass Versicherungsschutz auch für Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Erwerb des Fahrzeugs gewährt werden soll. Dort heißt es konkret:

Versicherungsschutz besteht für den Versicherungsnehmer in seiner Eigenschaft als Eigentümer, Halter, Fahrer und Insasse aller bei Vertragsabschluss auf ihn zugelassenen und im Versicherungsschein genannten Fahrzeuge. Als auf den Versicherungsnehmer zugelassen gilt ein Fahrzeug, wenn auf seinen Namen ein Fahrzeugschein ausgestellt und ein amtliches Kennzeichen erteilt worden ist.

Klauseln sind aus Sicht eines durchschnittlichen Kunden missverständlich

Allerdings könne ein Versicherungsnehmer bei der Lektüre der weiteren Klauseln in deren Zusammenwirken zu der Annahme gelangen, dass der Versicherungsschutz auch beim Erwerb eines Ersatzfahrzeugs greife, betont der BGH:

  • So sieht § 21 Absatz 8 Satz 4 VRB 1994 ausdrücklich vor, dass Versicherungsschutz „für Rechtsschutzfälle im Zusammenhang mit dem Vertrag über den Erwerb“ eines hinzuerworbenen Fahrzeugs besteht, sofern dieses „in die Gruppe eines versicherten Fahrzeugs“ fällt.
  • Nach § 21 Absatz 9 VRB 1994 wird der Vertrag zudem automatisch als Fahrer-Rechtsschutz (§ 23 VRB 1994) fortgeführt, wenn kein Fahrzeug mehr auf den Versicherungsnehmer zugelassen ist. Sobald dieser wieder ein Fahrzeug anmeldet, wird der volle Verkehrsrechtsschutz erneut wirksam.
  • § 23 Absatz 3 Satz 4 VRB 1994 sehe ebenfalls Versicherungsschutz „für Rechtsschutzfälle im Zusammenhang mit dem Vertrag über den Erwerb“ im Rahmen der Vorsorgeversicherung vor.

Auslegungszweifel gehen […] zu Lasten des Verwenders.

Bundesgerichtshof

BGH: Durchschnittlicher Versicherungsnehmer geht von Deckung aus

„Der durchschnittliche Versicherungsnehmer wird hieraus schließen, dass auch für den Fall des Erwerbs eines Ersatzfahrzeugs der versicherten Fahrzeuggruppe nach Abschluss des Versicherungsvertrags Versicherungsfälle der streitgegenständlichen Art vom Leistungsversprechen des Versicherers umfasst sind“, erklärt der BGH im Pressetext.

„Die somit bestehenden Auslegungszweifel gehen gemäß § 305c Absatz 2 BGB zu Lasten des Verwenders“, so der zuständige vierte Zivilsenat.

Das OLG Schleswig muss den Fall nun erneut prüfen und dabei die Vorgaben des Bundesgerichtshofs zur kundenfreundlichen Auslegung der Versicherungsbedingungen berücksichtigen.

Derartige Klauseln gehen völlig an der Realität vorbei.

Rechtsanwalt Frederick M. Gisevius

Fachanwalt: Urteil hat große Bedeutung für die Versicherungspraxis

Nach Ansicht von Frederick M. Gisevius, Anwalt bei der Kanzlei Brüllmann Rechtsanwälte GbR, hat die Entscheidung des BGH in der Praxis große Bedeutung.

Immer wieder verweigerten Rechtsschutzversicherer die Deckungszusage bei Klagen wegen unzulässiger Abschalteinrichtungen mit dem Hinweis, der Versicherungsschutz trete erst mit der Zulassung des Fahrzeugs auf den Versicherungsnehmer ein – nicht schon beim Kauf, berichtet Gisevius.

„Derartige Klauseln gehen völlig an der Realität vorbei. Denn zum Zeitpunkt des Erwerbs ist das Fahrzeug regelmäßig noch nicht auf den Käufer zugelassen. Der BGH hat den Rechtsschutzversicherern nun aber einen Strich durch die Rechnung gemacht und deutlich gemacht, dass solche unklaren Klauseln nicht zu Lasten der Versicherungsnehmer gehen dürfen“, erklärt der Fachanwalt auf der Webseite der Kanzlei.

Zudem habe der BGH bereits 2023 entschieden, dass Autohersteller im Abgasskandal bereits bei Fahrlässigkeit haften und nicht erst, wenn sie sittenwidrig getäuscht haben, berichtet Gisevius weiter (Medienspiegel 27.6.2023). Dies erschwere es Versicherern, eine Deckungszusage wegen fehlender Erfolgsaussichten abzulehnen.

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AVB · Bundesgerichtshof · Pkw · Rechtsschutz
 
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