8.10.2025 – Anbieter von Berufsunfähigkeitsversicherungen dürfen ihre Rentenzahlungen nur dann einstellen, wenn der Versicherte eine gleichwertige Tätigkeit aufnimmt. Ob das im Einzelfall gegeben ist, muss der Anbieter der Police im Streitfall beweisen. In einem aktuellen Rechtsstreit gewann die Klägerseite, weil die neu angetretenen Stellen deutlich weniger Fähigkeiten und Verantwortung verlangten.
Ein Kunde einer Berufsunfähigkeitsversicherung muss im Fall einer konkreten Verweisung erklären, weshalb der neue Job nicht mit dem alten vergleichbar ist. Wenn er dieser Darlegungslast nachgekommen ist, muss der Versicherer ihm das Gegenteil beweisen können, um seine Rente zu verweigern.
Das hat das Thüringer Oberlandesgericht (OLG) in einem Urteil vom 19. Juni 2025 (4 U 537/23) entschieden. In dem Berufungsverfahren hat es damit ein Urteil des Landgerichts Mühlhausen (LG) vom 4. Mai 2023 (6 O 400/21) abgeändert. Die Revision gegen das OLG-Urteil wurde nicht zugelassen.
Demnach muss der Versicherer knapp 39.000 Euro plus Zinsen nachzahlen. Das entspricht der Summe von 37 Monatsrenten in Höhe von jeweils 1.052 Euro für die Zeit seit Mai 2019. Darüber hinaus muss er diese Rente maximal bis zum Vertragsende im November 2027 weiterzahlen.
Geklagt hatte in dem Fall ein Dachdecker, der vor 21 Jahren eine Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung abgeschlossen hatte. Aus diesem Vertrag erhielt der Kläger bereits seit Januar 2015 eine monatliche Rente in Höhe von 1.052 Euro.
Doch im Februar 2017 nahm der Mann einen neuen Job an. Die Tätigkeit umfasste laut Arbeitsvertrag die Mitarbeit im „Lager, Versand, Messebau und Liefertouren sowie Reklamationsbearbeitungen“. Für 40 Stunden pro Woche war darin ein Bruttoarbeitslohn von zunächst zehn Euro pro Stunde vereinbart.
Im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens der Versicherungsgesellschaft im September 2018 teilte der Kläger mit, „Lagerarbeiten, Auslieferungstouren, Messeausstellungen“ zu verrichten. Hierfür erziele er demnach inzwischen einen Bruttolohn von zwölf Euro pro Stunde.
Im Januar 2019 schrieb der Versicherer seinem Kunden, dass die Voraussetzungen der Berufsunfähigkeitsrente inzwischen nicht mehr vorlägen. Der Mann wurde demnach auf die ausgeübte Tätigkeit als „Lagerist/Auslieferer“ verwiesen.
Diese neue Tätigkeit entspreche seiner Ausbildung und seiner Berufserfahrung beziehungsweise den neu erworbenen Kenntnissen. Die relativ niedrige Einkommenseinbuße gegenüber seinem früheren Gesellenlohn von 12,20 Euro brutto pro Stunde sei hinzunehmen.
Damit sei die „Lebensstellung gewahrt“, befand die Versicherungsgesellschaft. Die monatlichen Rentenzahlungen an ihren Kunden stellte sie deshalb ab Mai 2019 ein. Hiergegen legte der Mann zweifach schriftlich Protest ein, den das Unternehmen jeweils zurückwies.
Laut dem Kunden war der Versicherer nicht berechtigt gewesen, die Rentenzahlung einzustellen. Denn die formellen Voraussetzungen der Verweisung seien nicht gewahrt. Die Versicherungsgesellschaft hatte ihm keine Vergleichsbetrachtung der Berufe unterbreitet.
Außerdem stellten die von ihm ausgeübten Lohnarbeiten keine vergleichbaren Tätigkeiten zu der eines Dachdeckergesellen dar. Für seine neu aufgenommenen Jobs sei nämlich keine Berufsausbildung erforderlich und sie böten auch keine Aufstiegschancen.
Seit November 2019 war der Mann als Hausmeister beschäftigt und erhielt dafür zunächst einen Stundenlohn von zwölf Euro brutto. Im Arbeitsvertrag gilt er als „gewerblicher Mitarbeiter“ und laut einer Tätigkeitsbeschreibung umfasst sein Job das „Führen von Gabelstaplern, Bau- sowie Kehrmaschinen zu innerbetrieblichen Zwecken“.
Auf diese neue Arbeitsgelegenheit verwies der Versicherer seinen Kunden hilfsweise im erstinstanzlichen Verfahren, mit dem der Dachdecker die Rentenzahlung einklagte. Demnach sei die Einkommenseinbuße so gering, dass die ausgeübten Berufe miteinander vergleichbar seien und die Lebensstellung des Klägers gewahrt sei.
Das Landgericht schloss sich der Ansicht der Beklagten an und wies die Klage ab. Die von dem gelernten Dachdecker derzeit ausgeübten Tätigkeiten als Lagerist und später als Hausmeister seien jeweils mit dem Beruf des nicht selbständig tätigen Dachdeckergesellen vergleichbar.
Der Kläger habe demnach nicht nachgewiesen, dass seine seit 2017 ausgeübten Tätigkeiten deutlich geringere Kenntnisse erforderten. Auch auf seinen neuen Stellen musste er selbstständig arbeiten und handwerkliche Fähigkeiten anwenden und die soziale Wertschätzung der Berufe sei nicht geringer. Auf die fehlenden Aufstiegschancen komme es hingegen nicht an.
Doch die OLG-Richter gaben in der zweiten Instanz dem Kläger Recht. Der Versicherer durfte den Mann demnach nicht auf die ab 2017 ausgeübten Tätigkeiten verweisen. Die vereinbarte Rente aus dem bestehenden Versicherungsvertrag muss das Unternehmen daher auch weiterhin zahlen.
In der Urteilsbegründung verweist das OLG auf die „Gesamtbetrachtung der Lebensstellungen“ des ausgelernten Handwerksgesellen, die nicht gewahrt sei. Er hatte seit seiner Berufsunfähigkeit vor zehn Jahren Jobs angenommen, für die keine Berufsausbildung vorgesehen ist.
Über die Details seiner vor und nach Eintritt der Berufsunfähigkeit ausgeübten Tätigkeiten hatte der Kläger vor Gericht umfangreich berichtet. Damit sei er seiner sekundären Darlegungslast nachgekommen. Somit trage der Versicherer „die Beweislast für den Wegfall seiner Leistungspflicht“. Doch: „Die Beklagte hat den Gegenbeweis nicht geführt.“
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