6.5.2025 – Ein Schüler, der für eine Hausarbeit wie ein Schulreferat auf eigene Faust Anschauungsmaterial beschafft, steht dabei nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Das belegt ein Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt. Maßgeblich für die Entscheidung war, dass die Schule die Beschaffung des Materials nicht ausdrücklich veranlasst hat.
Ein 15-jähriger Schüler sollte in der fünften Schulstunde ein Referat über Korbblütler halten. Vor Unterrichtsbeginn legte er mit seinem Moped zunächst den üblichen Schulweg zurück, fuhr dann aber an der Schule vorbei, um sich von einem Feld Sonnenblumen zu holen. Die wollte er für seinen Vortrag als Anschauungsmaterial nutzen.
Bevor er das Feld erreichte, erlitt er 1,5 Kilometer von der Schule entfernt einen Verkehrsunfall. Bei dem wurde er schwer verletzt.
Der Schüler beantragte die Anerkennung des Unfalls als Schulunfall, um Leistungen von der gesetzlichen Unfallversicherung zu erhalten. Die zuständige Unfallkasse lehnte dies jedoch mit der Begründung ab, dass sich der Unfall weder auf dem direkten Schulweg noch bei einer versicherten Tätigkeit ereignete. Der Schüler war mit dieser Entscheidung nicht einverstanden und klagte dagegen.
Das Sozialgericht Magdeburg wies die Klage des Schülers am 16. Mai 2024 (S 8 U 86/23) ab. Es schloss sich der Auffassung der Unfallkasse an:
Der Weg zum Sonnenblumenfeld habe nicht im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule gelegen. Auch wenn der Schüler glaubhaft versicherte, dass die Lehrerin angeregt habe, bei Vorträgen Anschauungsmaterial zu verwenden, sei dies keine konkrete schulische Anweisung gewesen.
Auch die Berufung des Schülers gegen diese Entscheidung blieb erfolglos. Das Landessozialgericht (LSG) Sachsen-Anhalt bestätigte mit dem Urteil vom 27. März 2025 (L 6 U 36/24) die Entscheidung der Vorinstanz.
Zwar gilt der Schüler gemäß § 2 Absatz 1 Nummer 8b SGB VII als Versicherter im Rahmen der gesetzlichen Unfallversicherung.
Im genannten Paragrafen steht: Kraft Gesetz versichert sind „[…] Schüler während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahmen [...]“
Allerdings liegt nach der Entscheidung des Gerichts im vorliegenden Fall kein Versicherungsfall vor, da der Unfall nicht als versicherter Arbeits- oder Wegeunfall gemäß § 8 SGB VII zu werten ist. Damit entfällt der Anspruch auf eine Leistung aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Begründung des Gerichts: Zum einen ist der Unfall nicht als Arbeitsunfall, wie in § 8 SGB Absatz 1 VII definiert, zu werten.
Laut Gericht ereignete sich der Unfall nicht „während des Besuchs von allgemein- oder berufsbildenden Schulen und während der Teilnahme an unmittelbar vor oder nach dem Unterricht von der Schule oder im Zusammenwirken mit ihr durchgeführten Betreuungsmaßnahmen“. Somit ereignete er sich nicht während einer versicherten Tätigkeit.
Zum anderen ist der Schüler erheblich von dem unmittelbaren Weg zwischen Wohnung und Schule abgewichen, ohne dass es einen versicherten Grund wie eine Umleitung oder eine konkrete Anweisung der Schule für diese Wegänderung gab.
Der Kläger hat laut Urteil „die Zielrichtung seines Weges aus privaten Gründen abgeändert, so dass ein sogenannter Abweg vorlag“. Damit war der Unfall kein Wegeunfall nach § 8 Absatz 2 Nummer 1 SGB VII.
Auch ein Versicherungsschutz im Rahmen des § 8 Absatz 2 Nummer 5 SGB VII – wonach die Erstbeschaffung von Arbeitsgeräten unter bestimmten Bedingungen versichert ist – kommt laut LSG hier nicht in Betracht.
Nach dem genannten Gesetz ist auch „das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt“ versichert.
Im Urteil heißt es unter Nennung der jeweiligen Rechtsprechungen dazu: „Unter ‚Arbeitsgerät‘ ist jeder Gegenstand zu verstehen, der seiner Zweckbestimmung nach zur Erledigung einer versicherten Tätigkeit geeignet ist und hauptsächlich genutzt wird. Dies trifft nicht nur auf Gegenstände zu, die ihrer Zweckbestimmung nach als typische Arbeitsgeräte in Betracht kommen […].
Entscheidend ist, dass der Gegenstand im Verhältnis zur gesamten Verwendung hauptsächlich zur Verrichtung der versicherten Tätigkeit gebraucht wird. […] Als Arbeitsgerät können bei Schulkindern beispielsweise Schulbücher, Schulhefte oder der Tuschkasten verstanden werden.“
Im verhandelten Streitfall ist laut LSG die zu beschaffende Sonnenblume als Arbeitsgerät zu werten: „Anschauungsmaterial für einen Vortrag (hier: die Sonnenblume) kann grundsätzlich bei Beschäftigten (zum Beispiel einer Lehrperson oder einem hauptberuflichen Referenten) als Arbeitsgerät angesehen werden.
In der Schülerunfallversicherung gilt nichts Anderes. Die Blume sollte im Rahmen des schulisch geforderten Vortrags entsprechend eingesetzt werden“, wie im Urteil zu lesen ist.
Allerdings lag keine schulische Anordnung vor, bestimmte Pflanzen zu besorgen. Dem Schüler war es freigestellt, ob, wann, wie und wo er sich gegebenenfalls Anschauungsmaterial beschafft, um den Vortrag zu halten. Deswegen wertete das Gericht das Pflücken der Sonnenblumen nicht als versicherte Tätigkeit „auf Veranlassung“ der Schule nach § 8 Absatz 2 Nummer 5 SGB VII.
Die Entscheidung, Pflanzen von einem privaten Feld zu holen, ist demnach dem Privatbereich zuzuordnen. Dementsprechend stand auch der Weg dorthin nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Das Gericht stellte klar: Selbst wenn die Lehrerin sinngemäß eine bessere Note für Vorträge mit Anschauungsmaterial in Aussicht gestellt habe, reiche das nicht aus, um einen gesetzlichen Unfallversicherungsschutz zu begründen. Der Kläger habe vielmehr einen erheblichen Gestaltungsspielraum gehabt.
Die Vorbereitung des Vortrags sei damit vergleichbar mit der Anfertigung einer Hausarbeit – und solche Tätigkeiten stehen nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn sie im häuslichen oder privaten Bereich erfolgen.
Und Hausarbeiten sind in der Regel dem privaten Bereich zuzuordnen, wie die Ausführung zum Urteil verdeutlicht: „Die Vorbereitung eines Vortrags ist – wie jede Hausarbeit – unmissverständlich aus dem organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule herausgenommen und uneingeschränkt dem privaten Bereich der Schüler zugewiesen worden, der jeder Einwirkungsmöglichkeit einer ordnungsgemäßen schulischen Aufsicht entzogen ist.“
Wie dem Urteil zu entnehmen ist, gilt: „Der Schutzbereich der gesetzlichen Unfallversicherung endet – jedenfalls bei Minderjährigen wie dem Kläger – dort, wo der elterliche Verantwortungsbereich beginnt. Nach ständiger Rechtsprechung besteht kein Unfallversicherungsschutz, wenn Schüler ihre Hausaufgaben im Selbststudium zur Vorbereitung, Festigung und Vertiefung des Lernstoffs zu Hause oder an anderen Orten im Verantwortungsbereich der Eltern erledigen.“
Der Leitsatz zum Urteil lautet: „Das Anfertigen einer Hausarbeit mit mündlicher Präsentation einschließlich des Besorgens von Anschauungsmaterial steht grundsätzlich nicht unter dem Schutz der Unfallversicherung der Schüler.
Daher ist es unerheblich, ob eine Lehrperson zu Beginn des Schuljahres alle Schüler/Schülerinnen auffordert, zum Erhalt einer besonders guten Note Anschauungsmaterial für einen im Laufe des Schuljahres zu haltenden Vortrag mitzubringen, und dies von Mitschülern auch so umgesetzt wird. Das Besorgen solcher Materialien stellt ohne weitere Konkretisierung auch keine Erstbeschaffung eines Arbeitsgeräts auf Veranlassung der Schule dar.“
Da das LSG die Revision zugelassen hat, bleibt abzuwarten, ob das Bundessozialgericht diese Rechtsauffassung höchstrichterlich bestätigt. Bis dahin gilt: Eine Eigeninitiative bei Schülern ist zwar pädagogisch wertvoll, steht aber nicht automatisch unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
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