4.6.2025 – Bei Auffahrunfällen wird in der Regel angenommen, dass der Auffahrende die Hauptschuld trägt. Hier gilt der sogenannte Anscheinsbeweis, wonach nicht ausreichend Abstand eingehalten wurde. In einem aktuellen Fall sprach das Oberlandesgericht Frankfurt am Main dem vorausfahrenden Fahrzeugführer jedoch eine Mithaftung von 50 Prozent zu, weil er einen Spurwechsel plötzlich abgebrochen hatte und auf die ursprüngliche Spur zurückgekehrt war.
Im Sommer 2021 war der Fahrer eines Ford Ranger auf der A45 unterwegs – auf der linken von drei Spuren. Wegen einer Baustelle verengte sich die Fahrbahn auf zwei Spuren. Das vor ihm fahrende Auto wechselte daher auf die mittlere Spur und auch der Ford-Fahrer leitete einen Spurwechsel nach rechts ein.
Als er etwa zur Hälfte auf der mittleren Spur angekommen war, bemerkte er, dass sich der Verkehr dort staute, während die linke Spur noch frei war. Daraufhin zog er wieder zurück nach links – ebenso wie das Fahrzeug vor ihm. Kurz darauf bremste dieses vorausfahrende Fahrzeug abrupt bis zum Stillstand.
Der Ford-Fahrer brachte sein Fahrzeug ebenfalls zum Stehen, doch ein nachfolgendes Wohnmobil aus den Niederlanden konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und fuhr auf. Die Wucht des Aufpralls sei so stark gewesen, dass der Ford auf das vor ihm stehende Fahrzeug geschoben wurde, so behauptete zumindest der Fahrer.
Der Unfall ereignete sich somit auf der linken Spur. Es entstand ein Sachschaden von knapp 59.500 Euro. Anhand der Zeugenaussagen der beteiligten Fahrer, die sich teils einander widersprachen, konnte der Unfallverlauf nicht genau aufgeklärt werden.
Der Kfz-Vollkaskoversicherer des Ford-Ranger-Fahrers hatte zunächst den Schaden am Pkw voll bezahlt und wollte nun den Versicherer des Wohnmobilfahrers in Regress nehmen. Dabei galt es, die Schuldfrage am Unfall zu klären.
Das Landgericht Gießen hatte zunächst mit Urteil vom 27. November 2023 entschieden, dass der Wohnmobilfahrer zu 80 Prozent für den entstandenen Schaden haftet. Demnach müsse sich der Fahrer des Ford lediglich die Betriebsgefahr seines Fahrzeuges anrechnen lassen, was einer Mithaftung von 20 Prozent entspreche.
Das Landgericht berief sich in seiner Begründung auf den sogenannten Anscheinsbeweis: eine juristische Beweiserleichterung. Demnach spreche bei einem Auffahrunfall regelmäßig der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende den Unfall verursacht hat: etwa, weil er den Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat, unaufmerksam war oder zu spät gebremst hat. Folglich hätte der Wohnmobil-Fahrer den Unfall schuldhaft allein verursacht.
Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main korrigierte jedoch das Urteil und sprach dem Fahrer des Fords mit Urteil vom 29. April 2025 (9 U 5/24) eine Mithaftung von 50 Prozent zu. Denn der im Regelfall beim Auffahrunfall greifende Anscheinsbeweis sei hier nicht anwendbar. Dem stünden sowohl die unklare Verkehrslage vor dem Unfall als auch der atypische Geschehensablauf entgegen.
„Der grundsätzlich gegen den Auffahrende sprechende Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn das vorausfahrende Fahrzeug im unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Unfall einen bereits zur Hälfte vollzogenen Fahrstreifenwechsel unvermittelt abbricht, wieder vor dem auffahrenden Fahrzeug einschert und dort sein Fahrzeug zum Stillstand abbremst“, heißt es hierzu im Pressetext des Gerichts.
In dieser Situation sei vielmehr eine Haftungsverteilung von 50 Prozent zu 50 Prozent gerechtfertigt, führt das Gericht weiter aus.
Nach Auffassung des Gerichts bestand im konkreten Fall ein unmittelbarer zeitlicher und örtlicher Zusammenhang zwischen dem abgebrochenen Spurwechsel und dem späteren Auffahrunfall.
Der Fahrer des Ford konnte dabei nicht nachweisen, dass er vor seinem „Schlenker“ den rückwärtigen Verkehr auf der linken Spur ausreichend beachtet hatte, bevor er auf die linke Spur zurückkehrte, und muss sich deshalb ein mögliches Fehlverhalten anrechnen lassen. Auch ob er den Blinker setzte, um den erneuten Richtungswechsel anzukündigen, konnte nicht festgestellt werden.
Zeitgleich hätte auch der Wohnmobilfahrer jederzeit mit abrupt abbremsenden und die Fahrspur wechselnden Fahrzeugen rechnen und seine Fahrweise entsprechend anpassen müssen, so führte das Gericht weiter aus. Dies ergebe sich bereits daraus, dass der befahrene Fahrstreifen mit Blick auf eine Baustelle endete und zudem starkes Verkehrsaufkommen herrschte.
Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Das Oberlandesgericht weist darauf hin, dass mit einer Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung der Revision beantragt werden kann.
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