26.9.2025 – Ein medizinisches Gutachten darf nicht allein deshalb zurückgewiesen werden, weil die begutachtete Person von einer Begleitperson unterstützt wurde. Entscheidend sei vielmehr, dass die Rolle dieser Person während der Untersuchung ausreichend dokumentiert werde, so das Landessozialgericht Baden-Württemberg in einem rechtskräftigen Urteil. Grundsätzlich bestehe ein Recht darauf, sich bei Untersuchungen von einem Vertrauten unterstützen zu lassen.
Ein junger Mann war nach seiner Ausbildung in den Jahren 2015 bis 2018 als Physiotherapeut tätig. Bereits in dieser Zeit klagte er über gesundheitliche Probleme, so dass er seine Arbeitszeit teilweise deutlich reduzieren musste und sich phasenweise arbeitsunfähig schreiben ließ.
Nach einem fast einmonatigen Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung wurde im Entlassungsbericht ein Chronic-Fatigue-Syndrom diagnostiziert – eine Erkrankung, deren Ursache nicht genau geklärt ist, aber oft mit dauerhafter Erschöpfung und Müdigkeit einhergeht. Als Ursache wurde eine Infektionskrankheit angenommen.
Im Abschlussbericht hieß es, für die folgenden Monate könne der Mann allenfalls eine leichte Tätigkeit im Umfang von einer Stunde täglich verrichten. Mit einer Rückkehr zur vollen Arbeitsfähigkeit sei frühestens nach sechs bis neun Monaten zu rechnen.
Als der Mann beim zuständigen Regionalträger der Deutschen Rentenversicherung eine Erwerbsminderungsrente beantragte, lehnte dieser den Antrag ab und zog die Schwere seiner Erkrankung in Zweifel. Gegen den Bescheid klagte der Mann.
Das Sozialgericht Ulm wies die Klage mit Urteil vom 4. Oktober 2022 (S 1 R 4054/19) ab. Ausschlaggebend war unter anderem, dass die Richter die Überzeugungskraft eines medizinischen Gutachtens anzweifelten, das sie selbst als Beweismittel eingeholt hatten.
Der Sachverständige hatte festgestellt, dass der Betroffene weniger als drei Stunden auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein könne, jede körperliche Belastung zu vermeiden sei und er nicht einmal 500 Meter allein zu Fuß zurücklegen könne.
Doch diesem Gutachten ist die Rentenversicherung mit einer eigenen sozialmedizinischen Stellungnahme entgegengetreten. Dort wurde bemängelt, dass während der Begutachtung zeitweise die Freundin des Mannes anwesend gewesen sei und sie sich auch zu seiner Situation geäußert habe. Es wurde unterstellt, sie habe damit den Gutachter in seinem Urteil beeinflusst.
Außerdem wies die Rentenversicherung in ihrer Stellungnahme darauf hin, dass eine formale Prüfung der Glaubwürdigkeit der Beschwerden des Klägers nicht erfolgt sei. Das Gutachten weise daher methodische Mängel auf. Auch dem Abschlussbericht der Reha-Einrichtung, in der der Kläger behandelt worden war, wurden inhaltliche und formale Mängel unterstellt.
Das Landessozialgericht Baden-Württemberg korrigierte mit einem rechtskräftigen Urteil vom 8. November 2024 (L 8 R 3110/22) den Richterspruch der Vorinstanz und sprach dem früheren Physiotherapeuten eine Erwerbsunfähigkeitsrente zu. Auf die Entscheidung macht aktuell der Deutsche Anwaltverein e.V. aufmerksam.
Dabei stellte das Gericht klar, dass das Gutachten, wonach der Mann erwerbsunfähig ist, nicht allein deshalb angefochten werden darf, weil eine Begleitperson anwesend war. Patienten hätten grundsätzlich das Recht, eine Vertrauensperson auch zu einer gerichtlich angeordneten gutachterlichen Untersuchung mitzunehmen, so der zuständige achte Senat.
Dabei verwiesen die Richter auf ein eigenes Urteil vom 3. Mai 2024 (L 8 R 2314/22), in dem das Recht auf Begleitung zumindest teilweise eingeschränkt wurde – und ein Gutachten als methodisch mangelhaft eingestuft worden war. In diesem früheren Urteil wurden Bedingungen festgelegt, die erfüllt sein müssen, damit ein Gutachten trotz der Anwesenheit einer Begleitperson als verlässlich gilt.
Um zu verhindern, dass die Überzeugungskraft eines Gutachtens beeinträchtigt werde, „bedarf es einer differenzierten Darstellung des Gutachters, inwiefern die Begleitperson gegebenenfalls durch ihre (zum Beispiel unterstützende) Anwesenheit oder fremdanamnestische Angaben auf die Begutachtung Einfluss genommen hat“, schreibt das LSG im Leitsatz zum Urteil.
Das beinhalte auch Angaben dazu, „inwiefern mit dem Probanden auch Teile der Begutachtung ohne Anwesenheit einer Begleitperson durchgeführt wurden“, erläutert der Senat weiter.
Im vorliegenden Fall war die Freundin des Klägers während der gutachterlichen Untersuchung nur zeitweise anwesend. Der Sachverständige dokumentierte ausdrücklich, wann und in welchem Umfang sie einbezogen wurde, so das Gericht.
Sie wurde etwa gesondert zu der aktuellen Situation ihres Freundes befragt und dazu, wie sich sein Zustand im Vergleich zur Zeit vor der Infektion verändert habe. Außerdem gab sie im Rahmen einer Fremdanamnese Auskunft zum sportlichen und gesundheitsbewussten Lebensstil des Klägers vor der Infektion Anfang 2016.
Der Gutachter hatte zudem dokumentiert, wie sich das Verhalten des Klägers im Verlauf der Untersuchung von zunächst zurückhaltend und unsicher zu deutlich aktiver und selbstbewusster Teilnahme entwickelt hatte. Auch die spezifische Fremdanamnese der Freundin wurde gesondert dargestellt, während sensible Themen wie Sexualfunktion im Einzelgespräch behandelt wurden.
Angesichts dieser differenzierten Dokumentation kam das Gericht zu dem Schluss, dass die zeitweise Anwesenheit der Begleitperson die Validität der Untersuchung nicht beeinträchtigte und die Überzeugungskraft des Gutachtens nicht entscheidend schmälert.
Da der Mann zudem ein weiteres Gutachten vorlegen konnte, das seine Krankheit bestätigte, muss die Rentenversicherung ihm nun eine Rente wegen voller Erwerbsminderung rückwirkend zum 1. November 2018 zahlen. Der Rechtsstreit selbst hatte sich – seit Einreichen der Klage – über fast fünf Jahre hingezogen.
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