D&O-Versicherung: Auszahlung nach „Wer zuerst kommt“-Prinzip rechtens?

24.6.2025 – Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main bestätigte, dass bei Gruppen-D&O-Versicherungen die Auszahlung der Versicherungssumme nach dem Prioritätsprinzip erfolgen darf – also nach dem Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“. Eine anteilige oder nach Schadenshöhe gestaffelte Verteilung ist hingegen nicht vorgesehen.

Der ehemalige Finanzbuchhalter der Wirecard AG und Geschäftsführer der Unternehmenstochter Wirecard Technologies GmbH wurde im Zuge des Wirecard-Skandals (VersicherungsJournal Archiv) strafrechtlich verfolgt und saß auch mehrere Monate in Untersuchungshaft.

Dabei entstanden hohe Kosten für seine Verteidigung im Ermittlungs- und Haftprüfungsverfahren sowie zusätzliche Public-Relations-Kosten (PR-Kosten), da er namentlich in der kritischen Berichterstattung genannt wurde und einen Imageschaden fürchtete.

D&O-Versicherer entschädigte nach Reihenfolge des Rechnungseingangs

Wirecard hatte für seine Führungskräfte eine D&O-Gruppenversicherung abgeschlossen, die für das Jahr 2019 eine Versicherungssumme von 15 Millionen Euro vorsah. Als der ehemalige Wirecard-Manager die Übernahme aller Kosten von seiner Managerhaftpflicht forderte, lehnte der Versicherer ab.

Zwar übernahm die Versicherung die Kosten im Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, nicht jedoch die PR-Kosten von knapp 38.500 Euro. Begründet wurde dies damit, dass die Versicherungssumme bereits ausgeschöpft sei.

Das Geld wurde nach dem sogenannten Prioritätsprinzip („first come, first served“) verteilt. Vereinfacht bedeutet das: Wer seine Rechnung zuerst einreicht, erhält vom Versicherer eine Entschädigung – bis das verfügbare Geld aus der Versicherungssumme aufgebraucht ist. Es war schlicht nichts mehr übrig, was es zu verteilen gab. Daraufhin klagte der Buchhalter gegen den Versicherer.

Benachteiligt Prioritätsprinzip einzelne Versicherungsnehmer?

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main musste sich am 29. November 2024 (7 U 82/22) mit der grundsätzlichen Frage befassen, ob der Geschäftsführer durch die Verteilung der Versicherungssumme nach dem Prioritätsprinzip benachteiligt wird.

Auf das Urteil macht Dr. Florian Weichselgärtner von der Beiten Burkhardt Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in einem Beitrag für die Haufe Mediengruppe aufmerksam.

Die klagende Partei argumentierte, dass das Geld stattdessen nach dem sogenannten Proportionalitätsprinzip hätte verteilt werden müssen. Das bedeutet, dass bei mehreren Anspruchsberechtigten die verfügbare Versicherungssumme anteilig im Verhältnis zu ihren jeweiligen Schadenshöhen verteilt wird. Wer also einen größeren Schaden hat, bekommt auch mehr Geld.

Dabei berief sich der Wirecard-Manager auf § 109 VVG. Der Paragraf regelt die Verteilung der Versicherungsleistung bei mehreren Gläubigern eines Haftpflichtversicherers, also wenn mehrere geschädigte Dritte Ansprüche gegen denselben Versicherer geltend machen. Die Vorschrift dient dem Schutz der Geschädigten und sieht eine anteilige Befriedigung nach dem Verhältnis der jeweiligen Schadenshöhen vor.

Keine gefestigte Praxis zur Verteilung der Versicherungssumme

Eine gefestigte Vertragspraxis, die sich mit der Frage der Verteilung einer nicht ausreichenden Versicherungssumme auf mehrere Versicherte im Rahmen einer Gruppenversicherung beschäftigt, gibt es derzeit nicht, so betonte der zuständige 7. Zivilsenat.

Auch in den Musterbedingungen des GDV seien solche Regeln nicht enthalten. Die vorliegenden AGB hätten keine Regelung zur Verteilungsmethode festgeschrieben. Die Parteien hätten darüber hinaus auch keine ausdrückliche Regelung zur Tilgungsreihenfolge vereinbart.

Insofern war der Versicherer mangels gesetzlicher oder vertraglicher Vorgaben grundsätzlich befugt, eine Verteilung nach dem Prioritätsprinzip vorzunehmen – also in der Reihenfolge des Rechnungseingangs. Dies erfülle die Grundsätze einer willkürfreien, sinnvollen und vom Grundsatz her fairen Verteilung der Versicherungssumme auf die Geschädigten.

„Das Prioritätsprinzip besagt, dass ein zeitlich vorhergehender Versicherungsfall leistungsmäßig vorrangig vor Ansprüchen aus zeitlich nachfolgenden Versicherungsfällen einer Versicherungsperiode zu befriedigen ist“, führt das OLG im Urteilstext aus.

„Für eine solche Verteilung spricht grundsätzlich bereits die versicherungsrechtliche Struktur als solche, die auf sachgemäßen, anerkannten kaufmännischen Organisationsprinzipien beruht, ihren Ursprung im Versicherungsrecht hat und dort regelmäßig praktiziert wird“, erläutert das Gericht.

§ 109 VVG regelt nicht die Verteilung der Gelder unter Versicherten

Das Gericht wies darauf hin, dass das Proportionalitätsprinzip aus § 109 VVG im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei.

Weil er die Verteilung der Versicherungssumme unter mehreren Geschädigten gegenüber dem Versicherungsnehmer regle, betreffe er die sogenannte Außenhaftung – also die Haftung des Versicherungsnehmers gegenüber Dritten –, nicht aber die Verteilung unter den versicherten Personen selbst (Innenhaftung).

Der Gesetzgeber habe mit dieser Regelung den Schutz der geschädigten Dritten sozial ausgestalten wollen, betont das Gericht: Wer einen höheren Schaden erlitten hat, soll auch anteilig in größerem Umfang vom Versicherungsschutz profitieren.

Im Rahmen der Innenhaftung bei der D&O-Versicherung gehe es allerdings um die umgekehrte Fallkonstellation, da es sich nicht um mehrere Geschädigte handle, sondern um mehrere Versicherte, denen ein haftungsbegründendes Verhalten angelastet werde. Daher greife die angedachte Schutzfunktion hier nicht.

Entschädigte Versicherungsnehmer müssten mit Rückforderungen rechnen

Das Oberlandesgericht stellt hierzu fest: Würde man in Gruppenversicherungen nach dem Proportionalitätsprinzip entschädigen, müssten Versicherungsnehmer, die ihr Geld bereits bekommen haben, ständig mit Rückforderungen rechnen. Sobald andere Versicherungsnehmer hohe Schäden geltend machen, könnte der Versicherer bereits gezahlte Beträge zurückfordern.

Wenn man das Proportionalitätsprinzip auf die Verteilung der Versicherungsleistung anwendet, würde zudem ausgerechnet derjenige Versicherte am meisten profitieren, der den größten Schaden verursacht hat – was nicht sinnvoll wäre.

Das Gericht stellt klar, dass die Versicherungsnehmer selbst über die Höhe der Deckungssumme und den Umfang des Versicherungsschutzes entscheiden können. Außenstehende Dritte mit Haftpflichtansprüchen haben diese Möglichkeit nicht.

Daher besteht nach Auffassung des Gerichts keine Analogie, die eine Anwendung von § 109 VVG auf die Innenhaftung bei D&O-Versicherungen rechtfertigen würde.

Keine intransparente Klausel nach BGB

Auch der Einwand der Kläger, die Anrechnungsklausel sei intransparent und somit unwirksam, blieb ohne Erfolg. Nach § 307 Absatz 1 Satz 2 BGB darf eine Klausel in AGB nicht unklar oder missverständlich sein – sonst läge eine unangemessene Benachteiligung vor.

Hier beriefen sich die Kläger auf § 305c BGB, wonach überraschende Klauseln – also solche, mit denen der Vertragspartner nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags nicht zu rechnen braucht – kein Vertragsbestandteil werden.

Dem hielt das Gericht entgegen, dass Anrechnungsklauseln in D&O-Gruppenverträgen üblich seien und der Kläger dies auch hätte wissen müssen. Denn Zielgruppe solcher Policen seien Unternehmen und deren Führungskräfte, die bereits über ein umfangreiches Wissen im Bereich Versicherungsschutz und Vertragsbedingungen verfügen.

Versicherungsnehmer einer D&O-Versicherung mit AGB vertraut

Abzustellen sei auf den Erwartungshorizont der Versicherungsnehmer, die vom Schutzbereich einer D&O-Versicherung erfasst werden, betonte das Gericht. Diese seien üblicherweise geschäftserfahren und mit AGB vertraut. Sie stünden im Wirtschaftsleben und seien grundsätzlich in der Lage, ihren Versicherungsbedarf einerseits und die vorhandenen Angebote andererseits zu bewerten.

Das gelte besonders für den Kläger, hob das Gericht hervor. In seiner Rolle als Leiter der Buchhaltung und Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft sei er ein typischer Vertreter derjenigen, die solche Verträge abschließen. Deshalb könne von ihm ein gutes Verständnis für die Vertragsbedingungen erwartet werden.

Auch § 101 VVG greift nicht

Die Kläger verlangten außerdem die Übernahme aller Kosten nach § 101 VVG. Diese Vorschrift verpflichtet Rechtsschutzversicherer, die Kosten zu tragen, die dem Versicherten durch die Abwehr von Ansprüchen entstehen – sogenannte Abwehrkosten –, auch wenn diese die vereinbarte Versicherungssumme überschreiten.

Ziel der Regelung ist es, den Versicherten vor den finanziellen Folgen der Rechtsverteidigung zu schützen. Denn die Kosten für die Abwehr von Ansprüchen können schnell sehr hoch werden und die finanzielle Existenz des Versicherten gefährden. Der Wegfall der Höchstgrenze soll eine angemessene Reaktion gegen unberechtigte Forderungen gewährleisten.

Auf D&O-Versicherungen ist das gesetzliche Leitbild jedoch nicht übertragbar, hob das Gericht hervor. Denn hier entstehen oft hohe, schwer vorhersehbare Abwehrkosten und komplexe Haftungsfragen, bei denen unklar ist, ob die Kosten für die Abwehr oder für die sogenannte Freistellung anfallen – also die Übernahme von Schadenersatzansprüchen gegenüber Dritten durch den Versicherer.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Der Senat hat die Revision zugelassen.

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