27.6.2025 – Das Landgericht Stralsund entschied, dass bei einem Auffahrunfall mit drei beteiligten Fahrzeugen der Auffahrende grundsätzlich für den gesamten Schaden am mittleren Fahrzeug haftet – auch wenn dieses durch das Auffahren auf das vorausfahrende Auto geschoben wird.
Auf einer Bundesstraße fuhren kurz vor einer Abzweigung drei Fahrzeuge. Als der vorderste Wagen plötzlich abbremste, kam es mit den beiden nachfolgenden Fahrzeugen zu einem Auffahrunfall. Nach Aussagen des Fahrers im mittleren Wagen sei dieser noch rechtzeitig zu stehen gekommen, ohne das vordere Auto zu berühren.
Der Autofahrer im hintersten Wagen konnte jedoch nicht rechtzeitig bremsen und prallte auf das Heck des mittleren Fahrzeugs. Durch den Aufprall wurde das mittlere Auto wiederum auf den vorderen Pkw aufgeschoben. Somit entstand am mittleren Wagen sowohl ein Heck- als auch ein Frontschaden.
Die Kfz-Halterin des mittleren Fahrzeugs verlangte daraufhin vom Fahrer beziehungsweise vom Kfz-Haftpflichtversicherer des hinteren Pkws, ihren Kfz-Schaden in Höhe von fast 7.000 Euro vollständig zu ersetzen.
Der beklagte Kfz-Versicherer zahlte jedoch nur 70 Prozent des Schadens. Er berief sich darauf, dass der Fahrer des mittleren Fahrzeugs durch das eigene Bremsmanöver mit dazu beigetragen habe, dass sein Auto auf das vordere Fahrzeug geschoben wurde.
Die betroffene Fahrerin bewertete die Sachlage anders und reichte eine entsprechende Klage ein. Sie gab an, dass ihr Fahrzeug rechtzeitig zum Stillstand kam, ohne das vordere Auto zu berühren.
Der eigentliche Unfall – also das Aufschieben auf den vorderen Wagen – sei erst durch das Auffahren des nachfolgenden Pkws verursacht worden. Die gesamte Schadenshöhe sei daher vom Fahrer beziehungsweise vom Kfz-Haftpflichtversicherer des hinteren Autos zu ersetzen.
Der beklagte Fahrer des hinteren Wagens behauptete jedoch, dass das Fahrzeug der Klägerin bereits auf das vordere Auto aufgefahren war. Erst danach ist er mit seinem Pkw mit dem Heck des Autos der Klägerin kollidiert. Der Kfz-Versicherer wollte daher nur den Heckschaden anteilig regulieren.
Das Landgericht Stalsund gab der Klägerin recht. Mit dem Urteil (2 O 204/24) vom 27. Mai 2025 entschied das LG, dass die Kfz-Haftpflichtversicherung und der beklagte Fahrer als Gesamtschuldner den vollständigen Schaden ersetzen müssen.
Das Gericht berücksichtigte bei der Beurteilung des Sachverhaltes die Angaben der unfallbeteiligten Fahrer sowie weiterer Zeugen. Es wertete Lichtbilder und ein Gutachten aus und zog auch Akten der Staatsanwaltschaft hinzu.
Nach Auswertung aller Beweise kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass das mittlere Fahrzeug – das Auto der Klägerin – tatsächlich zunächst ohne Berührung hinter dem ersten Wagen zum Stehen gekommen war. Erst als das hinterste Fahrzeug, das der Beklagte steuerte, auf den Wagen der Klägerin auffuhr, wurde dieser auf das vorderste Auto aufgeschoben.
Das Gericht betonte ausdrücklich: „Im Ergebnis der Beweisaufnahme steht mit dem notwendigen Grad an Gewissheit fest […], dass eine Bremswegverkürzung nicht vorgelegen hat, sondern das klägerische Fahrzeug tatsächlich zunächst noch ohne Berührung hinter dem Fahrzeug des Zeugen […] zum Stehen gekommen war […].“
Die Kfz-Haftpflichtversicherung des hinteren Pkws muss daher nicht nur den Heck-, sondern auch den Frontschaden des mittleren Wagens zu 100 Prozent übernehmen. Als Rechtsgrundlagen wurden vom LG unter anderem die §§ 1, 3 Absatz 1 sowie 4 Absatz 1 StVO (Straßenverkehrsordnung) sowie die §§ 7 Absatz 1 und 17 Absatz 2 StVG (Straßenverkehrsgesetz) aufgeführt.
Im Urteil wird insbesondere auf die gängige Rechtsprechung bei Auffahrunfällen hingewiesen. Sie besagt: Wenn ein Auto auf ein stehendes oder bremsendes Fahrzeug auffährt, spricht der erste Anschein dafür, dass der Auffahrende den Unfall allein verursacht hat.
Das Gericht betont: „Anerkannt ist auch, dass diese Anscheinsbeweislage nicht schon dadurch erschüttert wird, dass der ‚Vordermann‘ gegebenenfalls grundlos abgebremst hat […].“ Daher spielte es bei einem Auffahrunfall wie im genannten Fall keine Rolle, was der konkrete Grund für die plötzliche (Voll-)Bremsung des ersten Autos war.
Weiter heißt es im Urteil: „Bei sogenannten Kettenauffahrunfällen ändert sich an dieser Betrachtung jedenfalls dann nichts, wenn feststeht, dass – wie hier – das mittlere Fahrzeug noch ohne Berührung hinter dem ersten Fahrzeug zum Stehen gekommen war, ehe das dritte Fahrzeug auf das mittlere aufprallt.“
Bei Auffahrunfällen mit mehreren Beteiligten gilt laut dem LG: Wenn das mittlere Fahrzeug – wie hier – noch rechtzeitig zum Stehen kommt und erst durch das hintere Fahrzeug aufgeschoben wird, muss der Auffahrende den vollen Schaden ersetzen, sowohl für den Heck- als auch für den Frontschaden.
Bei Auffahrunfällen, auch bei sogenannten Kettenauffahrunfällen mit mehreren Fahrzeugen, spricht grundsätzlich der Anscheinsbeweis für die Alleinschuld des Auffahrenden. Nur in Ausnahmefällen – wenn der Auffahrende nachweisen kann, dass der Unfall trotz aller Sorgfalt unvermeidbar war – kann dieser Anscheinsbeweis erschüttert werden.
Einen solchen Ausnahmefall zeigt beispielsweise ein Urteil (10 U 7411/21 e) des Oberlandesgerichts München (VersicherungsJournal 6.7.2022). Hier musste in einem Auffahrunfall der Vordermann für die Unfallschäden haften, nachdem er nach einem Überholmanöver so knapp vor einem Lkw einscherte, dass dieser keinen ausreichenden Sicherheitsabstand mehr aufbauen konnte, um einen Auffahrunfall zu verhindern.
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