13.8.2025 – Wer einen Bussonderfahrstreifen an der dafür vorgesehenen Stelle quert, muss einen Autofahrer, der diese Spur unberechtigt nutzt, nicht durchfahren lassen, sondern hat Vorrang. Dies hat kürzlich das Kammergericht Berlin entschieden. Gleichzeitig stellten die Richter klar, dass ein in zweiter Reihe nicht verkehrsbedingt Haltender beim Wiederanfahren eine gesteigerte Sorgfaltspflicht hat.
Auf dem Kudamm in Berlin stand ein Pkw-Fahrer auf der Busspur in zweiter Reihe. Die Vorderräder seines Gefährts leicht links einschlagend, fuhr er an.
Gerade in diesem Moment querte ein Autofahrer zulässigerweise die Busspur. Diese war an der Stelle durch unterbrochene Linien gekennzeichnet, um Verkehrsteilnehmern ein Erreichen des Rechtsabbiegerfahrstreifens zu ermöglichen. Die beiden Fahrzeuge stießen zusammen.
Der querende Fahrer verlangte vollen Schadenersatz. Der Unfallgegner hätte seiner Meinung nach gar nicht auf der Busspur stehen dürfen.
Zudem hätte dieser beim Anfahren eine gesteigerte Sorgfaltspflicht nach § 10 StVO gehabt (Einfahren und Anfahren). Das sah der auf der Busspur Haltende anders. Schließlich zog der Spurwechsler vor Gericht.
In erster Instanz wurde ihm ein Mitverschulden angelastet. Das Landgericht Berlin (45 O 301/22) sprach ihm ein Drittel des Schadens zu.
Dies sah die zweite Instanz anders. Das Kammergericht Berlin (KG Berlin) (22 U 29/24) entschied, dass der Anfahrende den Unfall allein verschuldet hatte und allein haftet.
„Der in zweiter Reihe nicht verkehrsbedingt Haltende hat beim Wiederanfahren zwar die Anforderungen und gesteigerten Sorgfaltspflichten des § 10 Satz 1 StVO nicht in unmittelbarer Anwendung der Norm einzuhalten“, schreiben die Richter im Leitsatz zur Begründung.
Deren Beachtung obliege ihm wegen der vergleichbaren Sachlage jedoch in gleicher Weise im Rahmen der allgemeinen Sorgfaltspflicht nach § 1 Absatz 2 StVO (Grundregeln).
Den Bussonderfahrstreifen durfte der Beklagte nicht benutzen.
Kammergericht Berlin
Bei einem Anfahren vom Fahrbahnrand und dem Anfahren aus zweiter Reihe bestehe eine vergleichbare Situation, die keinen wesentlichen Unterschied bedeute, wird eingehender im Urteil ausgeführt.
Das Erkennen des Anfahrens sei für andere Verkehrsteilnehmer eher zusätzlich erschwert, weil nicht aus einer Lücke ausgefahren, sondern aus dem Stand unvermittelt losgefahren werde.
Ferner habe das Landgericht übersehen, dass der Verordnungsgeber für ohnehin verbotene (rechtswidrige) Sachverhalte Regelungen nicht treffen müsse. Deshalb sei das grundsätzlich unzulässige Halten in zweiter Reihe naturgemäß nicht in die Spezialregelung des § 10 StVO einbezogen.
„Den Bussonderfahrstreifen durfte der Beklagte nicht benutzen. Auf ihm darf auch nicht gehalten werden“, wird festgestellt.
Die Absicht zum Einfahren in den fließenden Verkehr ist rechtzeitig anzuzeigen.
Kammergericht Berlin
Die Grundsätze müssten deshalb für das Anfahren aus zweiter Reihe erst recht gelten, weil andernfalls derjenige, der ohnehin schon gegen das Recht verstoße, gegenüber dem rechtmäßig parkenden oder haltenden Verkehrsteilnehmer besser gestellt wäre.
„Im Rahmen der allgemeinen Sorgfalts- und Rücksichtnahmepflicht (§ 1 Absatz 2 StVO) gelten daher die gleichen Anforderungen und Grundsätze. Es besteht eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, die Absicht zum Einfahren in den fließenden Verkehr ist rechtzeitig (mindestens fünf Sekunden zuvor) anzuzeigen (selbst bei Geradeausfahrt im Fahrstreifen) und dessen Vorrang zu beachten“, so das KG Berlin.
Den Beklagten habe der Kläger nicht nach § 9 Absatz 3 Satz 2 StVO durchfahren lassen müssen. Die Regelung bevorrechtige ausschließlich benutzungsberechtigte Verkehrsteilnehmer, wie Linienbusse.
Den Kläger treffe kein Verschulden. Es sei zum einen nicht ersichtlich, dass er die Absicht des Beklagten, aus dem Stand anzufahren, hätte erkennen müssen oder können. Wegen des haltenden Pkw habe er auch nicht mit berechtigtem Verkehr auf dem Bussonderfahrstreifen rechnen müssen.
Zum anderen habe dem Kläger als Teilnehmer des fließenden Verkehrs der Vorrang vor dem nicht verkehrsbedingt haltenden Beklagten zugestanden. Hinter dem grob sorgfaltswidrigen Verhalten des Beklagten trete im Rahmen der Abwägung der Mitverursachungs- und Mitverschuldensanteile die Haftung des Klägers aus der Betriebsgefahr vollständig zurück.
Der Anfahrende muss nun dem Spurwechsler 6.464,89 Euro nebst Zinsen zahlen sowie die Kosten des Rechtsstreits tragen. Eine Revision wurde nicht zugelassen.
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