26.3.2025 – Die Wahl der Therapie ist primär Sache des Arztes, stellt der BGH fest. Der Arzt sei dabei nicht stets auf den jeweils sichersten Weg festgelegt; ein höheres Risiko müsse aber in besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden. Er müsse alle bekannten und medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen für eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung anwenden und umso vorsichtiger vorgehen, je einschneidender ein Fehler für den Patienten sein kann.
Die 1985 geborene Klägerin war 1997 wegen Gleichgewichtsstörungen stationär im Krankenhaus aufgenommen worden.
Bei einer Operation im Januar 1998 wurde ein Knochenspan zwischen zwei Halswirbeln eingepasst und mit einer Drahtumschlingung befestigt. Im Rahmen einer Nachbehandlung in einer Rehabilitationsklinik stürzte die Patientin beim Duschen. Dadurch lockerte sich die Drahtverbindung.
Von Behandlungsseite wurde daraufhin zu einem weiteren Eingriff geraten. Dieser erfolgte im April 1998 mit einer erneuten Drahtumschlingung. Die postoperative Röntgenkontrolle war wiederum unauffällig. Nach der Operation hatte sie jedoch kein Gefühl mehr in den Beinen.
Im weiteren Verlauf des stationären Aufenthalts wurde eine Enge der gelegten Drahtumschlingung festgestellt – ein weiterer Eingriff im April 1998 folgte, eine neue Drahtumschlingung wurde vorgenommen.
Alle Eingriffe wurden nach der „Gallie-Technik“ mit Verdrahtung der Wirbel vorgenommen. Postoperativ wurde festgestellt, dass die Klägerin ateminsuffizient und nicht ansprechbar war. Sie leidet seitdem an einer inkompletten Querschnittslähmung.
Die Klägerin forderte vom Klinikum und den Ärzten, die sie dort behandelten, Schadenersatz. Begründung: Die Aufklärung ihrer Eltern sei unzureichend gewesen, die Auswahl der Operationsmethode fehlerhaft gewesen, die Eingriffe seien fehlerhaft ausgeführt worden.
Sie argumentierte: Hätten die Eltern die Risiken der angewandten Operationsmethode und möglicher Alternativen gekannt, so hätten sie nicht in die Eingriffe eingewilligt beziehungsweise sich zumindest in einem Entscheidungskonflikt befunden.
Die Beklagten entgegneten, bei der Klägerin habe bereits vor dem ersten Eingriff eine inkomplette Querschnittsymptomatik bestanden, die auch ohne diese Operationen zu einer vollständigen Querschnittslähmung geführt hätte.
Alternative Operationsmethoden habe es zum Operationszeitpunkt nur bei Erwachsenen, nicht aber bei Kindern gegeben. Die Operationen seien lege artis durchgeführt worden. Die Querschnittslähmung sei auf die Grunderkrankung der Klägerin zurückzuführen. Sie beriefen sich weiter auf eine hypothetische Einwilligung.
Das Landgericht Magdeburg verurteilte die Beklagten zu Schmerzensgeld und stellte ihre Verpflichtung zum Ersatz künftiger Schäden fest, weil die Aufklärung über Behandlungsalternativen unterblieben sei.
Das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg wies die Klage hingegen ab. Aus seiner Sicht ließ sich kein Behandlungsfehler feststellen. Für die operative Versorgung hätten grundsätzlich zwei Methoden zur Verfügung gestanden: die vorgenommene Drahtfixierung und die „Verschraubungsmethode“.
Laut OLG hätte Letztere die größeren Heilungsaussichten und eine eher geringere Komplikationsrate gehabt; diesen Vorteilen habe kein größeres Eingriffsrisiko gegenübergestanden. Seit Ende der 1980er Jahre hätten beide Operationsmethoden einem Neurochirurgen bekannt sein müssen, auch für Kinder.
Zugleich stellte es aber auch fest: Die Verdrahtungsmethode sei jedenfalls im Zeitpunkt der beiden streitgegenständlichen Eingriffe im Januar beziehungsweise April 1998 eine dem medizinischen Standard entsprechende Operationsmethode gewesen. Klare Leitlinien zur Behandlung bei Kindern habe es damals nicht gegeben.
Versäumnisse sah das OLG in der Aufklärung über die verfügbaren Behandlungsalternativen. Die Beklagten hätten aber „mit Erfolg den Einwand der hypothetischen Einwilligung erhoben“.
Letztlich befasste sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit dem Fall. In seinem Urteil (Az. VI ZR 204/22) vom 21. Januar 2025 führte er in Sachen Therapiewahl aus, diese sei „primär Sache des Arztes“. Dieser habe bei seiner Entscheidung grundsätzlich einen weiten Beurteilungsspielraum.
Insbesondere sei der Arzt dabei „nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt“. Allerdings müsse ein höheres Risiko durch besondere Sachzwänge des konkreten Falls oder durch eine günstigere Heilungsprognose sachlich gerechtfertigt sein.
Jedenfalls müsse der Arzt alle bekannten und medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen anwenden, die eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung gewährleisten. Und er müsse umso vorsichtiger vorgehen, je einschneidender sich ein Fehler für den Patienten auswirken kann.
Ob der Arzt einen Behandlungsfehler gemacht hat, der zu einer Gesundheitsschädigung geführt hat, „beantwortet sich ausschließlich danach, ob der Arzt unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen im konkreten Fall vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt hat“.
Er müsse eine Therapie anwenden, die dem jeweiligen Stand der Medizin entspricht. Das bedeute aber nicht, dass jeweils das neueste Therapiekonzept verfolgt werden muss, wozu dann auch eine stets auf den neuesten Stand gebrachte apparative Ausstattung gehören müsste.
Ab wann ist eine bestimmte Behandlungsmaßnahme als veraltet und ihre Anwendung als Behandlungsfehler zu sehen? Jedenfalls dann, so der BGH, „wenn neue Methoden risikoärmer sind und/oder bessere Heilungschancen versprechen, in der medizinischen Wissenschaft im Wesentlichen unumstritten sind“ und deshalb nur ihre Anwendung verantwortet werden kann.
Nun könne nicht jede technische Neuerung, die den Behandlungsstandard verbessern kann, von den Kliniken sofort angeschafft werden – schon aus Kostengründen, anfangs möglicherweise auch wegen eines noch unzureichenden Angebots auf dem Markt.
Deshalb müsse es für eine gewisse Übergangszeit gestattet sein, ältere, bis dahin bewährte Methoden anzuwenden, sofern das nicht schon wegen der Möglichkeit, den Patienten an eine besser ausgestattete Klinik zu überweisen, unverantwortlich erscheine.
Daraus folgt für den BGH: Es kommt entscheidend darauf an, ob die Wahl der Verdrahtungsmethode angesichts der anerkannten Verschraubungsmethode bei den drei Eingriffen medizinisch vertretbar war. Hierzu vermisste der BGH allerdings die „notwendigen Feststellungen zur Vertretbarkeit“.
„Dass die Verdrahtungsmethode dem Standard entsprochen haben soll und gängig war, kann insbesondere bei dieser Gefahrensituation mit schwerwiegendsten Folgen für den Patienten für eine Abwägung nicht genügen.“
In einem dritten Punkt ging der BGH auf die Frage der hypothetischen Einwilligung ein. Das Berufungsgericht hatte erwogen: Das Fehlen der Einwilligung in die erste Operation macht den Eingriff nicht rechtswidrig, da sich die Behandlungsseite auf die „hypothetische Einwilligung“ berufen hat und die Eltern einen Entscheidungskonflikt nicht plausibel gemacht haben.
Für den BGH taten sich „durchgreifende rechtliche Bedenken“ gegenüber dieser Sichtweise auf. Vom Patienten könne nicht verlangt werden, dass er plausibel macht, er hätte sich im Falle einer ordnungsgemäßen Aufklärung tatsächlich gegen die durchgeführte Maßnahme entschieden.
Eine Protokollierung der „simulierten Aufklärungssituation“ – also dessen, was der Sachverständige den Eltern als zutreffende Aufklärung vorgetragen hat – liege nicht vor; eine Prüfung sei daher nur eingeschränkt möglich.
„Anhand der Entscheidungsgründe rügt die Revision aber zu Recht Verfahrensfehler im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung.“ Der BGH hob das Urteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung an das Berufungsgericht zurück.
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